Als wir auf die Straßen traten. Damals. Nach den Ansprachen und dem endlich laut Werden in den Kirchen. Als wir Kerzen trugen und sie an die Wegränder stellten. Als wir Gänsehaut an Gänsehaut friedlich unseren Augen nicht trauten. Wer da plötzlich alles mitlief. So viele, von denen man geglaubt hatte, sie wären dem Staat treu ergeben. Wären in der Partei. Wären zufrieden. Nähmen einfach alles weiter so hin, ohne es zu hinterfragen.
Wo wart ihr bloß in den Jahren zuvor, fragte ich mich und lief berauscht und glücklich durch die Abende des Novembers 1989. Wir waren so viele. Man könnte uns nicht alle einsperren. Seit Wochen schon hatte ich versucht, meinen Kollegen das klar zu machen. Wir schaffen das, hatte ich gesagt, wir werden die alten Männer da oben absägen. Einer war doch schließlich schon weg. Den Rest schaffen wir auch. Wenn wir das alle wollen und endlich unseren Mund aufmachen.
An Ausgewählte verteilte ich Flugblätter. Vom Neuen Forum. Sie riefen zu den Treffen in den Kirchen auf. Und anschließenden Demonstrationen. Ich glaubte so fest daran, dass sie uns nicht mehr stoppen könnten. Endlich sollte es Sinn machen, dass ich trotz Ausreiseantrag noch da war. Das Bildungsverbot, das auf mir lag, sollte endlich ein sinnvolles Opfer sein. Ich ahnte nicht, wozu sie fähig gewesen wären. Von den Panzern erfuhr ich erst lange danach. Euphorie tanzte in mir. Mit ihr der Traum vom frei Sprechen, egal wo. Vom nicht mehr bespitzelt Werden. Von einer Zeit ohne Angst davor, dass man zu falschen Menschen das Falsche sagen würde. Der Traum vom gehen Können, wohin ich will. Vom Bleiben, wo es mir gefällt. Und immer wieder davon, zu sagen, was ich denke. Ohne Angst.
Als wir auf die Straßen gingen, wussten wir wofür. Freiheit. Freiheit, die an klaren Grenzen endete. Im Kopf und im Land. Keiner sollte uns mehr vorschreiben dürfen, was wir denken, hören, sehen, lesen, was wir fühlen sollen. Ich war so stolz auf alle, die ich sah. Die sich endlich, endlich trauten. Und endlich ehrlich waren zu sich selbst. Revoluzzerblut. Einige hatten es in sich.
Einige wagen sich auch heute vor. Gewaltbereit begegnet ihnen Polizei, wenn sie sich vor Bankgebäuden Gehör verschaffen wollen. In einem Land, in dem jeder seine Meinung sagen darf. In dem Freiheit nicht nur im Kopf herrscht. Es zeigen sich mir wieder Grenzen auf. Zwischen uns – nenne ich uns, weil es vertraut ist, das Volk – und einem Netzwerk an Verstrickungen aus Geld, Macht und Krieg. Da werden Menschen weggesperrt, die finanzielle Missstände im großen Stil aufdecken wollten, die vermutlich Dimensionen erreicht hätten, an denen einige Lobbyisten sich die Manschetten verbeult hätten. Es werden Steuern verschwendet für Großbaustellen und Militäreinsatzspielzeuge großer Jungs. Große Jungs, die Macht mögen und keinen Mut zur Wahrheit haben. Wie viel Wert hat die Wahrheit überhaupt in den Etagen der Mächtigen? Denn nicht zuletzt – die Transparenz, die ich mir wünschen würde, scheint ja nun gerade umgekehrt transparent. Nicht wir haben Einblick über das hinaus, was ermöglicht wird. Sondern wir scheinen unbemerkt Einblicke in unser Leben unfreiwillig freizugeben. Wie lange schon und in welchem Maße wird das Volk für dumm verkauft? Und wie lange sieht es noch zu?
Ich spüre ein ähnliches Brodeln. Wie damals. Doch es erscheint mir so unendlich viel schwieriger, Klarheit zu finden darüber, was es eigentlich zu ändern gilt. Kinder an die Macht? Ist es überhaupt möglich, etwas zu verbessern? Aufbegehren über Ohnmacht und gefühlte Verarsche ist das eine. Nur welchen Sinn hat es, wenn man keine Lösung weiß oder eben ein Ziel, das man benennen kann? Wenn wir einen Kehraus begingen – stellten wir uns vor, wir wären Revoluzzer – einen Kehraus durch alle Reihen, dem Korrupte, Machthungrige und Falschspieler zum Opfer fielen, gäbe es dann zahlenmäßig noch genug fähige Menschen, die in der Lage wären, ein Land zu führen?
Ich habe ja, wie immer, von all dem keine Ahnung. Ich schnappe auf und empfinde dabei. Die Empfindungen sammeln sich. Und das ergibt dann ein Bild in mir. Und, ja genau, weil ich nicht malen kann … Der Fisch stinkt vom Kopf, sagt ein guter Freund von mir häufig, wenn Systeme kranken. Ich glaube mittlerweile, unser Land ist ein einziger stinkender Fisch. Das Schöne darauf, die schillernden Schuppen sind wir. Wir sind der Mantel. Wir sind schön und wir kleben fest. Um unseren Fisch hocken Parasiten. Sie haben Leitungen gelegt in den Bauch des Fisches und nähren sich von seiner faulenden Brühe. Zwischendurch füttern sie ihn, dass er noch am Leben bleibt. Sie halten seine Verwesung auf und werden fett. Vielleicht muss man mit den Parasiten anfangen. So wie neulich vor dem Bankgebäude. Doch die Parasiten und der Fisch sind sich einig. Und wir schillern schön.
Tja Süße, so war es 😉 … nun ist wirklich vieles besser …
Kussi