Saftiges Grün hat der Landschaft den Sommer angezogen. Wie ein Pelz schmiegen sich Wiesen an Täler und Berge, die der Urstrom einst geschliffen hat. Die Sonne scheint. Am Horizont lässt sich ein Dorf erahnen. Das Blau des Himmels rundet die Postkartenidylle ab. Bis dahin ein normales Bild. Doch normal ist anders.
Eine Herde weißbrauner Kühe hat sich im Tal aufgestellt. Gleichmäßig, wie Figuren auf einem Schachbrett stehen sie da. Jede in gleichmäßigem Abstand zur nächsten. So verharren sie und blicken in dieselbe Richtung. Wie mit dem Lineal gezogen starren sie mich an.
Ein Stück unterhalb von mir steht ein Mann. Um seinen Hals hängt eine überdimensionale Kuhglocke. Plötzlich fängt er an, seinen Oberkörper hin und her zu bewegen. Die Glocke schwingt mit ihm, so dass ein gleichmäßiger Klang über das Tal hallt. Ding-Dong, Ding-Dong, Ding-Dong, dem Schlag einer Uhr gleich. Wie hypnotisiert folgen die Kühe seiner Bewegung. Gleichmäßig schaukeln sie hin und her. Bald hallt ein einziges Glockenschlagen über das Tal. Ding-dong. Sie stehen wie angewurzelt und läuten im Takt. Grotesker Gleichklang, alle machen mit.
Irgendwann scheint sich ihre Anordnung aufzulösen und formiert sich zu einem Gänsemarsch. Zuerst in weiter Ferne kommen sie näher, bis die erste den Berg an meiner Seite erklimmt und an mir vorbei läuft. Ich drehe mich um und sehe, dass ich auf einem Hof stehe. Rechts von mir ist der Kuhstall, der nun langsam ein Tier nach dem anderen in sich verschlingt. Keine tanzt aus der Reihe. Alle verschwinden brav in der Dunkelheit. Das Läuten verstummt.
Während ich die Szenerie auf mich wirken lasse, tritt eine Kuh aus dem Stall zurück auf den Hof. Sie läuft in langsamen Schritten auf mich zu. Kurz vor mir hält sie an. Unsere Nasen können sich berühren. Ihre großen braunen Augen fangen mich ein. Völlig ohne Angst stehe ich da, und sehe sie an. Und sie sieht mich an. Das ist alles, was wir tun.
Dieser Traum hat mein Leben verändert. Er war in einer Nacht mein Begleiter, in der ich drei weitere sonderbare Sequenzen erlebte, die ich allesamt am nächsten Morgen noch wusste. Nie zuvor und nie danach habe ich eine so starke Bildhaftigkeit nach dem Aufwachen bewahren können. Es gab mir die Möglichkeit, genauer hinzusehen.
Es passte alles so wunderbar zu dem, was mich in dieser Zeit umtrieb. Nach einer gesundheitlich schwierigen Phase, war ich in einem Loch, dass ich mir selbst gegraben hatte. Viele Dinge hatte ich in den zurückliegenden Jahren geschehen lassen. Meine eigenen Bedürfnisse häufig mit Füßen getreten. Nun spukte seit einiger Zeit ein Wesen in mir, dass sich um jeden Preis Gehör verschaffen wollte. Dieser Geist, der es wohl gut mit mir meinte, war das »ICH«. An manchen Tagen schrie es mich förmlich an. Ich solle es endlich anhören und frei lassen, schließlich wüsste ich doch nicht, wie viel Zeit im Leben mir noch bleiben würde.
Insgeheim gab ich ihm recht. Doch viel sprach dagegen. Meine Kinder, deren Dach ich nicht zerstören wollte, waren das Ausschlaggebendste. Daneben hockten die »man« Sprüche meiner Mitmenschen. »Das tut man nicht. So ist man nicht» Verdammt, wer war eigentlich »man«?
Ich fühlte mich gefangen in einem Umfeld, dass nicht meins war. Seit Jahren hatte ich das ignoriert. Vieles geht, wenn die Liebe es trägt. Doch wenn sie eines Tages ihre Flügel hebt und sich von deiner Zweisamkeit entfernt, macht es ein Weiterleben in dieser Konstellation schwierig.
Spießrutenlaufend, Scheuklappen aufgerichtet, huschte ich von A nach B, nachdem ich ausgesprochen hatte, was ich empfand. Nichts mehr. Ich hatte es ausgesprochen und mein Leben dadurch nicht leichter gemacht. Als ich begriff, dass es nicht viele Menschen in meinem Umfeld geben würde, die sich die Mühe machten, mich zu verstehen, und als Bedrohungen und Beschimpfungen mein Maß an Aushaltenkönnen überschritten hatten, zog ich in ein neues Leben. Ich war die Kuh, die den Stall verließ und sich nicht mehr einer Herde anpassen wollte.
Als ich in diesem Leben ankam, kaufte ich ein Buch. »Danke« stand schlicht auf dem Titel. Ich dachte über Dinge nach, für die ich dankbar war. Ich kramte in meiner Kindheit. Ich wollte verzeihen, dass er mich nie gefragt hat, wie das wirklich alles war, als die Liebe wegflog. Er hatte nur sein Schwert gezogen und keine Tochter mehr gewollt.
Ich erinnerte mich an Wassermelonen, an tröstende Worte bei Liebeskummer, an einen fast unsichtbaren Lidschatten, an die besten Verstecke in unserer Wohnung. Ich zählte das alles auf und kam auf zehn wundervolle Dinge, die ich mit ihm erlebt hatte. Das ist eine Menge. Dann schrieb ich einen Brief, um mich vor ihm und der ganzen Welt zu rechtfertigen. Um endlich das »man« abzustreifen und gegen ein »ICH« einzutauschen:
Das Leben existiert auch auf Abwegen und in Seitenstraßen. Nichts ist tödlicher für mich, als im Gleichklang der Autobahn daran vorbei zu rasen. Mich mit Positivem zu umgeben, Neues zu entdecken, Zufriedenheit finden, zu überleben, das ist jetzt mein Weg.
Es war nicht mehr nötig, Buch und Brief abzuschicken. Mein Groll war endlich verflogen. Ich verzieh. Jeder Mensch hat Gründe für das, was er tut. Auch wenn das manchmal nicht klar ersichtlich ist. Und er muss die Konsequenzen daraus tragen. Ich habe gelernt, dass Dankbarkeit ein fester Weg durch Morast sein kann. Über Flammen kann sie tragen, wenn das Leben niederbrennt, was am kostbarsten schien. Selbst der größte Optimist kann an einen Punkt kommen, an dem ihn Selbstmitleid in seine klebrigen Fänge nimmt und ihm den Kopf vernebelt. Manche Erlebnisse lassen sich nicht weg trösten oder schön reden und scheinbar Unerträgliches muss ausgehalten werden. Dankbarkeit kann ein Weg hinaus sein. Zurück ins Leben.