Ich schlage das Buch zu. Ein ausgelesenes vom Stapel der Krimis, die ich mir bereit gelegt habe.
Das Buch, das ich zugeschlagen habe, hat Friedrich Dürrenmatt geschrieben. Es trägt den Titel »Der Verdacht«. Grob zusammengefasst geht es darin um – für die meisten von uns nicht nachvollziehbare – Handlungsweisen (und deren späte Überführung), die ein Mensch an anderen Menschen vornehmen kann. Unter dem Schirm der gerade herrschenden politischen Situation. In dem Fall um haarsträubende Ausübungen eines Lagerarztes im KZ.
Das Buch ist nun zu. Ich bin noch leicht in einem Nebel gefangen, wie es gut Geschriebenes vermag und wähle zum Zurückkommen die Zeitung, die ebenfalls auf dem Tisch vor mir liegt. Der Aufmacher auf dem Titelblatt ist Syrien und damit die Giftgasangriffe um Damaskus. Auf einer Seite finde ich Augenzeugenberichte von Anwohnern, Helfern und Ärzten. Die Berichte lesen sich wie aus der Vergangenheit, vermischen sich durch Worte wie »Vergasen« mit dem Nebel in meinem Kopf, wie etwas, das sich in meinem Verstand nicht breitmachen kann, weil es nicht sein darf. Doch sie haben kleine Widerhaken, hängen sich fest und malen Bilder ins Hirn. Z.B. die des Mannes, der nach den Angriffen in ein Haus zurück kehrt und in allen Betten Tote wie Schlafende vorfindet. Kinder, zugedeckt bis zum Kinn. Mit Schaum vor dem Mund. Eltern im Nachbarzimmer, mit dem Kleinsten in den Armen. Weil das Unvorstellbare in der Nacht kam.
Ich lese alle Berichte auf dieser Seite. Stecke fest in einem Mischmasch von Eindrücken aus Dürrenmatts Erzählung und den Artikeln der aktuellen Presse. Fassungslosigkeit weicht einer Leere. Wie ein Nichtglaubenwollen von etwas, das man zwar sieht, aber aus Selbstschutz vor der Türe lässt … doch Rettung naht. Zum Glück.
Sie räkelt sich in drei Zentimetern Entfernung lasziv auf einem sehr schönen Sessel, in sehr schönen Kleidungsstücken und mit einem noch sehr viel schöneren Gürtel, der doch ganz wunderbar zu meinen neuen Schuhen …
Oh, mein Gott, denke ich, das darf doch nicht wahr sein. Während sich über den beiden verführerischen Damen ein syrischer Flüchtling in Berlin-Hellersdorf nicht traut, in das ihm zugewiesene Asylantenheim zurück zu gehen, weil die NPD davor demonstriert und er Angst hat, sie würden ihn im Schlaf überrumpeln, und während links daneben andere Syrer plausibel gemacht haben, wieso er in Deutschland Schutz sucht, hänge ich an Gürteln und Taschen und Flauschkragen fest. Sie finden sich doch ach so viel leichter in meine Vorstellung ein. Sie lassen mich ausruhen. Nach dem ganzen Schrecklichen, was ich mir eben noch vorstellen musste, salben sie emphatische Wunden mit »Habenwollen«. Und fast hätte es funktioniert.
Erschrocken sehe ich die Schere, die vor mir aufgeht. Die eben einfach so da ist. Wenn die »eingeschlafenen« Frauen es noch könnten, würden ihnen die Schuhe oder Taschen auf dem Werbefoto vielleicht auch gefallen, suche ich nach einer Rechtfertigung für das Vorhandensein der halbseitigen Anzeige neben den Kriegsberichten aus Syrien und unter der Angst von Asylanten in Deutschland. Doch damit komme ich nicht durch.
Etwas fühlt sich falsch für mich an. Vielleicht darum so stark, weil ich an mir selbst erkenne, dass es funktioniert. Oder ist es gar ein gut gemeinter Zug der Medien, dass die Stimmung der Leser nach der ganzen scheußlichen Wahrheit in der Welt, wieder hochgezogen wird? Nach dem Motto: Sieh mal, es ist zwar alles schlimm und fühlt sich vielleicht traurig für dich an, lieber Leser, doch guck, was die Wirtschaft Schönes für dich an Trost bereit hält.
Ein Geniestreich also, dem psychologisch vielleicht Hand und Fuß dokumentiert werden könnte? So in etwas, wie die Anordnung von teuren Produkten in Augenhöhe … aber ich schweife ab. Vielleicht hat sich auch in Wahrheit gar keiner etwas dabei gedacht?
Apropos Wahrheit, die einzige Wahrheit auf dieser Doppelseite, die ich selbständig und kurzfristig mit eigenen Augen überprüfen kann, ist übrigens die Bestellung bei P****. Oder habe ich einfach nur keine Ahnung davon, wie man Zeitungen macht?