Nach 32 Kilometern über wechselnde Untergründe, manche davon fakirtrainingstauglich, kann man tags darauf spüren, welche Muskeln in Füßen und Waden eigentlich für unsere Fortbewegung, die naturgemäß barfuß stattfinden würde, zum Tragen kommen, vorausgesetzt man geht sie barfuß. Ganz nebenbei lässt sich Berlin mal ganz anders erleben und erspüren.
„Lass uns mal eben zum Grunewaldsee laufen, sind nur etwas über acht Kilometer … und wir können ja vorsichtshalber die Schlafsäcke …“
Nachmittags gestartet, war der Grunewald von Schöneberg aus schnell erreicht – ohne Schuhe durch Städte, darin sind wir ja erprobt. Noch hell, nicht müde, das Wasser klar und erfrischend … auch noch in der Krummen Lanke und auch noch im Schlachtensee …
„Aber jetzt dämmert es doch langsam …“ nach ungefähr 16 Kilometern.
Im Wald oberhalb der Uferzone beachtlich viele Wildschweinspuren.
„Schlafen wir also lieber direkt am See.“
Im Gepäck drei Äpfel, Wasser, eine Avocado und zwei Sorten selbst gebackenes Brot. Isomatten. Schlafsäcke. Geld für zwei Notrückfahrscheine und zwei Bier. Innenstadttarif.
Was macht man, wenn statt der erwarteten Rotte Wildschweine, des Nachts ein Fuchs das Lager am See besucht? Dem Liebsten in den Finger zwickt und in eine der Wasserflaschen beißt? Eine Diskussion vom Zaun bricht, während der die Menschen dann mitten in der Nacht am liebsten in getrennte Richtungen weiterziehen wollen … für ungefähr fünf Minuten?
„… so ein Monster!“
„… der arme Fuchs hat doch nur Hunger und sucht die Uferzone nach Menschenmüll ab!“
In der Morgendämmerung kommt Reinecke erneut. Die Diskussion verläuft ruhiger. Im Schilf warnen Stockenten und rufen deren Kinder. Nur zwei hat das Pärchen durchbekommen. Mein erstes Bad am Morgen. In der Ferne treibt ein Kahn. Ein Angler malt dieses kitschige Bild. Hinter ihm die aufgehende Sonne. Die ersten Jogger laufen oberhalb unserer Schlafstelle. Ein erster Schwimmer zieht seine Bahn über die sonst ruhige Oberfläche des Schlachtensees. Ab und zu springt ein Fisch. Uns schmecken die letzten Reste vom Bananenbrot. Dem Fuchs hätte das bestimmt auch gemundet.
„Du kannst den doch nicht füttern!“
„Aber bevor er DICH frisst …“
Wir vertragen uns. Packen zusammen. Ziehen weiter. Wannsee. Die ersten Besucher reihen sich vor dem Freibad. Wir laufen daran vorbei. Die Fußsohlen sind empfindlicher als am ersten Tag. Trotzdem lassen wir die Notfallschuhe in unseren Rucksäcken.
„Mal sehen, wie lange wir durchhalten …“
Endziel ist der Teufelsberg, vielleicht auch dessen See … Sonnerast an der Havel, genauer in der Lieper Bucht, die leider nicht mehr so sehr mit klarem Wasser verwöhnt, wie die Seen zuvor. Die Hitze zwingt mich trotzdem hinein. Der Liebste verfolgt schwimmend eine Ente. Der einzelne Schwan in der Nähe steuert auf ihn zu. Ich denke an den Fuchs. Der Schwan bleibt friedlich. Will nur die Grütze fressen, die in Bröckchen im Wasser schwimmt.
Wir brechen das letzte Brot, das unser Leben verändert – hier übrigens das Rezept vom Flohsamenbrot
also in dem Fall macht es uns satt und gibt hoffentlich genug Energie, um den Rest des Weges zu wuppen, okay, lassen wir noch einen Apfel übrig. Ich tausche übrigens die Haselnüsse durch Buchweizen aus …
Wir wandern auf dem Havelhöhenweg entlang. Dankbar für jedes Stück naturbelassenen Waldboden. Wie viele Mistkäfer so auf dem Rücken landen. Wenn sie noch leben, drehe ich sie um. Barfuß treten wir auf keinen noch so kleinen Käfer. Barfuß genießen wir Ausblicke nur, wenn wir stehen bleiben und nicht den Boden abscannen. Fast hat es etwas von Zen … wenn ich laufe, laufe ich und konzentriere mich nur aufs Laufen. Wir fluchen über Idee und deren Umsetzung, Wegabschnitte mit scharfkantigen Kieselsteinen zu befüllen. Schmerz weg atmen. Drüber rennen. Der Wasservorrat geht zur Neige. Der letzte Apfel wird geteilt. Immer wieder dieser verfluchte Kiesboden.
„Doch die Schuhe raus?“
„Jetzt sind wir schon so weit ohne … daneben ist doch eine Rasenkante, und da sind Laubreste …“
Zu stolz, um jetzt Schuhe zu tragen? Ich denke eher, mich hat der Ehrgeiz gepackt, es wirklich durchzuziehen. Um die 40 km soll die Gesamtstrecke betragen, die wir mittlerweile via komoot
geplant haben, eine Entwicklung, die ich Rad- und Wanderern ohne Rad immer wieder gern empfehle – mein König in Sachen Navigation und Tourenplanung weltweit.
„Teufelsberg, was ist denn da?“
„Weiß nicht, komoot empfiehlt mir das schon seit zwei Jahren als Ausflugsziel. Hoffentlich gibt’s da was zu trinken!“
„Da scheinen Häuser zu sein. Gibt es bestimmt Bier …“
„Auja, das könnte mich jetzt retten, also los!“
Die Vorräte sind aufgebraucht. Wir tauschen Rucksäcke. Meiner ist jetzt der leichtere.
„Wie weit issn noch?“
Ich angle mir einen Stock zum abpuffern. Nach ein paar hundert Metern bricht er ein Stück weg. Ist mir zu kurz. Ich werfe ihn ins Gebüsch. Endspurt.
Traumhafter Untergrund auf dem Weg zum Gipfel des Teufelsbergs. Weicher Sand … aber die Neigung … ein Skihang. Ich komme an meine Grenzen. Wünsch mir den Stock zurück. Die Sonne brennt ganz wunderbar. Wasser! Ich brauch Wasser!
„Der Eingang befindet sich rechts …“ – Schilder warnen vor unbefugtem Betreten des Geländes …
Eintritt 7,- EUR. Studenten können für 5,- … guckst du hier: Teufelsberg
„Wollt ihr rein?“
„Wir haben aber kein Geld.“
Ich denke an die Notrückfahrscheine.
„Was macht ihr beruflich?“
…
Nach einem kurzen Wortwechsel dürfen wir hinein und haben ein gekühltes Bier spendiert bekommen – ja, das ist so ein Phänomen, seit wir gemeinsam reisen – das Glück ist auf unserer Seite. Danke!!
Fotos. Kunst bestaunen. Innehalten. Treppen steigen. Treppen. Noch mehr Treppen. Bis unter das Dach vom höchsten Turm der ehemaligen Abhörstation – denn das ist auf dem Teufelsberg – und ein grandioser Ausblick auf ganz Berlin. Nicht zu vergessen, die einmalige Akustik dort oben.
„Hier mal ein Event planen – Mugge – Freunde – Videos drehen …“
Unsere Phantasie tanzt mit der Unterzuckerung.
„Baden im Teufelssee?“
„Nach Hause laufen?“
„Oder S-Bahnhof Grunewald?“
Wir hätten nicht nochmal anhalten dürfen, um uns zu entscheiden. Ich fange an, verschwommen zu sehen. Will kein Wasser mehr, das ich nicht trinken kann – also fällt der See flach. Schaffe die acht Kilometer vielleicht nicht mehr … meine Füße brennen wie Feuer. Keine Schuhe!
Wir passen in der S-Bahn gegenseitig auf unsere Füße auf, damit niemand draufsteigt. Bahnen fallen aus. Die S1 ist überfüllt … aber hey, wir sind spontan einfach mal 32 km barfuß durch Berlin gewandert und haben Natur genossen, die so gar nichts von Weltstadt hat.
Und seit heute Morgen spüre ich, welche Muskeln wir eigentlich benutzen würden, würden wir laufen, wie Gott uns schuf.
In diesem Sinne: Zieht euch die Schuhe aus!