Schön so, morgens, bevor die Mehrheit die S-Bahn nutzt, ein halb leeres Abteil zu betreten – normalerweise bleibe ich die fünf Stationen bis zum Umsteigebahnhof an der Tür stehen, weil ich um diese Zeit und auch generell nicht so sonderlich Lust auf fremde Menschennähe habe – aber heute sind prompt gleich mehrere Vierergruppen frei. Naja, denke ich, setz ich mich ausnahmsweise mal.
Ich bin fast am Ende des Waggons, vor der letzten Tür. Dahinter befinden sich nochmal zwei Vierergruppen, auf eine fällt mein Blick. Da steht ein verdreckter Jutebeutel, oben auf liegt eine ordentlich zusammengerollte karierte Wolldecke. Der Besitzer daneben scheint in sich versunken, jedenfalls sehe ich ihn nicht. Ich versuche, den Spruch auf dem Beutel zu entziffern, denn es lohnt sich kaum, das Buch für die kurze Strecke aus dem Rucksack zu holen, und lese: „Ein großer Schritt VORWÄRTS: Zurück zur NATUR“
Schön, denke ich, das hat was.
Am nächsten Halt steigen zwei Ordnungsbeamte der Bahn ein, laufen schnurstracks auf den Jutebeutel zu und … machen auf dem Absatz kehrt, an mir vorbei zurück zur vorletzten Tür.
»Die haben sich doch mindestens ein Jahr nicht gewaschen, so wie die stinken. Da würde ich am liebsten volle Kanne einem Hochdruckreiniger reinhalten. Was machen wir? Polizei? Sollen die doch sehen …«
»Ach«, antwortet der Kollege, »haben wir neulich auch gemacht. Die stehen dann auch nur da, kratzen sich den Ball und rufen den Rettungswagen.«
Danach telefonieren sie, erzählen von stark alkoholisiert und dass DIE auch nach mehreren Versuchen nicht aufzuwecken gewesen wären … und ich frage mich, ob der benannte Beamte nur einen Hoden hatte und ob die gerufenen Kollegen dann ähnlich vorgehen werden; den Jutebeutel anfixieren, auf dem Absatz kehrt machen, weil sie morgens keine fremden Stinkgerüche ertragen, und um sich anschließend am Ball zu kratzen.
Ich frage mich noch mehr: Werden sie den Spruch auf dem Beutel zur Kenntnis nehmen? Wird der Rettungsdienst eine Dusche anbieten? Kann das Gesetz einen überhaupt zum Waschen zwingen? Begreift der Beutelbesitzer das ZURÜCK ZUR NATUR als fehlende Körperpflege? Haben Menschen das natürliche Bedürfnis, nicht stinken zu wollen oder ist das anerzogen? Ist die Ausdünstung vielleicht Absicht, damit das Abteil um einen herum leer bleibt – mal abgesehen von Menschen wie mir, deren Riechkolben nur riecht, was er riechen will? Und wie lange dauert es überhaupt, bis man so unangenehm riecht, dass niemand, der dafür verantwortlich zu sein scheint, überhaupt nur den Versuch macht zu helfen, sondern eine Reihe von Leuten aktiviert werden, die die Aufgabe so lange an den nächsten weiterschieben, bis … ja, bis was eigentlich?
Fragen über Fragen – dann muss ich aussteigen.
Ich laufe am Fenster vorbei Richtung Rolltreppe und sehe rasch hinein, sehe zwei junge schlafende Männer, bei zumindest einem erkenne ich, dass er eine Frisur trägt, der durchaus als Schnitt erkennbar ist … und ich frage mich, haben sich Urmenschen eigentlich die Haare schneiden lassen?